Die Studenten der Antike


von Ralf G. Jahn

Die Universitäten des Altertums     Zu den antiken Fächern     Die artes liberales     Das Studium     Die Studenten     Die Studenten an der Universität von Nisibis     Das Schicksal der antiken Universitäten     Antike Studentensitten     Quellen, Literatur und Endnoten    
   

Alexanderschlacht


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Die Universitäten des Altertums

Obwohl vielfach von Universitäten des Altertums die Rede ist, gab es im 5. und 4. Jh. v. Chr. keine Hochschulen im modernen Sinn. Dies gilt sowohl für die von Platon um 387 v. Chr. gegründete Akademie, den 335 v. Chr. begründeten aristotelischen Peripatos und die anderen athenischen Philosophenschulen. Das von König Ptolemaios I. von Ägypten (323-283 v. Chr.) gegründete Museion in Alexandria, dem eine 700.000 Schriftrollen umfassende Bibliothek angegliedert war, mag schon eher mit einer “modernen” Universität verglichen werden. Ähnliche Bedeutung, wenn auch oft nur auf Teilgebieten, hatten im späten Altertum die Hochschulen von Athen, Rhodos, Lyon, Bordeaux und die Juristen- “Fakultät” von Beirut. Ungeklärt scheint, ob auch schon Bologna (Gründung 425 n. Chr.?) eine Rolle spielte.

Universitäten im modernen Sinn hat es in der Antike nicht gegeben, wohl aber bestimmte Bildungszentren, in denen sich der Hochschulunterricht konzentrierte und die man daher sinngemäß als Universitäten bezeichnen kann. An diesen “Hochschulorten” wurde, im Anschluß an den höheren Unterricht und als Abschluß des Bildungsganges, ein Studium (besonders der Philosophie und der Rhetorik) durchgeführt, dessen Organisation und Dauer freilich ganz dem Belieben des einzelnen „Studenten“ überlassen blieben. Bereits in hellenistischer Zeit haben in Alexandreia (Museion) und in Pergamon wissenschaftliche Bildungszentren bestanden, die aber mehr der selbstständigen Forschungsarbeit als dem Hochschulstudium dienten.

In der eigentlich hellenistischen Zeit gibt es in Wirklichkeit keine Universitäten (man kann dieses Wort ohne großen Anachronismus erst vom 4. Jh. n. Chr. ab verwenden), aber es gibt Städte, in denen eine besonders zahlreiche und angesehene Lehrerschaft eine besonders zahlreiche Studentenschaft anzieht.

Das erste dieser Zentren ist unzweifelhaft Athen, das bis zum Ende der Antike ein wahrer Brennpunkt der geistigen Arbeit bleibt. Selbst nachdem es alle Unabhängigkeit, alle politische Bedeutung verloren hatte, wurde es nie zu einer Provinzstadt wie andere Städte, sondern blieb das ruhmreiche Athen, die Mutter der Künste und Wissenschaften sowie der Literatur. Es war nicht nur eine Museumsstadt, die von der Erinnerung an ihre ruhmreiche Vergangenheit ihren Glanz erhielt und die man wegen der bewahrten Denkmäler dieser Vergangenheit besuchte, es blieb auch immer ein Sitz der Studien, wo eine nie abgebrochene Überlieferung ein einzigartig günstiges Klima für geistige Arbeit aufrecht erhielt.

Anfangs erscheint Athen vor allem als der große Mittelpunkt des philosophischen Unterrichts. Hier in Athen hatten sich alle großen Philosophenschulen niedergelassen, in der Form einer zugleich religiösen und gelehrten Bruderschaft. Die Akademie schon im Jahre 387 v. Chr. Das Lykeion, das im Jahre 335 v. Chr. eröffnet wurde, wurde erst spät zu einer endgültigen Institution, als die Gunst des Demetrios von Phaleron die gesetzlichen Schwierigkeiten überbrückt, die Aristoteles und Theophrast gehabt hatten, weil sie Metöken waren. Die demokratische Reaktion vom Jahre 307/6 v. Chr. erzeugte noch einmal Beunruhigung, aber die Aufhebung des Gesetzes des Sophokles von Sunion beseitigte 306 v. Chr. endgültig die Gefahr, welche von Seiten der vulgären Bigotterie der Philosophie gedroht hatte. Noch im selben Jahre richtet daher auch Epikur in endgültiger Form den “Garten” in Athen ein. Im Jahre 301/300 v. Chr. folgt mit Zenon die stoische Schule. Dies sind nur die 4 großen Richtungen, aber auch die andern Philosophien, die kynische, skeptische usw. sind ebenfalls in Athen erwachsen.

Die philosophischen Studien ziehen seit dem Ende des 4. Jh.s laufend zahlreiche Studenten von auswärts nach Athen. 2 der 4 großen Schulen sind von Metöken gegründet und zählten immer viele Ausländer unter ihren Mitgliedern, von ihren Häuptern angefangen. Es dauert bis zum Ende des 2. Jh.s v. Chr., ehe ein Athener, Mnesarchos, die Leitung der Stoa übernimmt.

Aber zur römischen Zeit zieht Athen auch wegen des Glanzes seiner Rednerschulen Studenten an. Im 1. Jh. v. Chr. ist ihr Ruf noch nicht sehr fest gegründet. Cicero benutzte jedoch die 6 Monate, die er in seiner Jugend dort verbrachte, um unter der Leitung eines alten, “ziemlich berühmten” Meisters, des Demetrios aus Syrien, “deklamieren” zu lernen (es ist bemerkenswert, daß einer von so weit her sich in Athen niederläßt). [1] Unter dem Kaiserreich festigt sich dieses Ansehen und erreicht mit Secundus und vor allem mit Herodes Atticus im 2. Jh. n. Chr. seine höchste Stufe. Von da an bis zum Ende der Antike zählt Athen zu den Hauptstädten der Zweiten Sophistik.

In Athen ließen auch die römischen Kaiser die Jugend durch besoldete Lehrer unterrichten. Marc Aurel errichtete für die 4 philosophischen Schulen und die Beredsamkeit Lehrstühle [2] . Die Verhältnisse in Athen, die uns namentlich aus der Literatur des 4. Jh.s n. Chr. (Libanios, Eunapios, Gregorios von Nazianz) sind, waren vielfach neuzeitigen Zuständen recht ähnlich; Athen lebte von den Studenten, die bei städtischen oder kaiserlichen hochbezahlten (10.000 Drachmen) Sophisten hörten und ihnen auch Honorar entrichteten. Die Studenten waren in sogenannte „Choroi“, d. h. Vereinigungen von Landsleuten der Professoren gegliedert. Sie unterstanden sogar einem körperlichen Züchtigungsrechte ihrer Lehrer, nahmen sich diesen gegenüber im Kolleg jedoch sehr viele Frei- und Frechheiten heraus (s. u.).

Die Schließung der neuplatonischen Schule von Athen durch Kaiser Justinian im Jahre 529 n. Chr. steht im Zusammenhang mit dem Kampf gegen das untergehende Heidentum, bedeutete aber nicht, daß das christliche Reich die Absicht hat, den Hochschulunterricht in religiösem Sinne umzuformen. Die byzantinische Schule ist ihren heidnischen Meistern so treu, daß man periodisch Renaissancen mit mehr oder minder heidnischen Neigungen feststellen kann.

Neben Athen ist ohne Zweifel Alexandreia der große Mittelpunkt der Studien. Das um 280 v. Chr. gegründete Museion ist nur eine der Äußerungen der eifrigen geistigen Tätigkeit, die sich sehr bald in der Lagidenhauptstadt entwickelt. In und neben dem Museion stehen Lehrer jeder Art zur Verfügung. Es handelt sich nicht nur um Philosophie und Beredsamkeit, sondern auch um alle übrigen Wissenszweige, besonders die hier seit langem heimische Pflege der Medizin. In dieser Hinsicht übertrifft die Anziehungskraft Alexandreias selbst die von Athen. Von einigen kurzen Schwankungen abgesehen, bleibt sie während der ganzen Dauer der hellenistischen Zeit bis zum Ende der Antike gleich stark. Es ist gar nicht so verkehrt, hellenistische und alexandrinische Kultur gleichzusetzen. Diese Rolle einer geistigen Hauptstadt spielte Alexandreia besonders zur Zeit der Diadochen und der ersten Epigonengeneration, während der ganze übrige Teil der hellenistischen Welt, Griechenland selbst nicht ausgenommen, von Kriegen und Revolutionen heimgesucht war. Unter der Verwaltung der Ptolemäer hatte Ägypten allein Friede und Sicherheit. Es wurde eine Art von Erhaltungsstätte der gefährdeten griechischen Bildung, und von ihr gingen, als der Augenblick gekommen war, die Keime der Erneuerung aus.

In Alexandreia berief ebenfalls der Rat die Lehrer. Hier  befand sich auch eine Schule für lateinische Sprache und römisches Recht, bedeutend war auch die bekannte christliche Katechetenschule. Als Sophist lehrte hier damals der junge Prokopios (465-528).

Vom Ende des 2. Jh.s v. Chr. erscheint Rhodos als der lebendigste und blühendste Universitätsmittelpunkt. Durch den römischen Sieg gezwungen, die Vorherrschaft in der Ägäis aufzugeben, die einen Augenblick lang seine Größe und sein Glück ausgemacht hat, findet Rhodos in dem Ansehen seiner Schulen eine neue Quelle des Ruhmes: Grammatik-, Philosophen- und vor allem Rednerschulen: In Rhodos lernen die Römer des 1. Jh.s v. Chr., von Cicero bis Tiberius, die Geheimnisse der großen Redekunst. Sie wissen, daß sie hier die bewährtesten Meister (wie etwa Molon, dem sein Schüler Cicero eine so leidenschaftliche Huldigung dargebracht hat [3] ) und die beste Überlieferung finden.

In der Kaiserzeit ist es Kleinasien, welches die Führung der kulturellen Bewegung übernimmt. Asia wird die reichste, die glücklichste und die gebildetste Provinz des Reiches. Am Ende des 1. Jh. n. Chr. und im ganzen 2. Jh., dem Goldenen Zeitalter der Antonine, ist Asien die Wahlheimat der griechischen Bildung, der lebendigste Mittelpunkt des Unterrichts in den großen Wissenschaftszweigen. Kos, dann Pergamon, Ephesos erleben die Blüte ihrer Medizinschulen. Wenn die Philosophie hier nicht so beliebt ist wie in Athen, so glänzt zum mindesten die Beredsamkeit. Asien ist die Heimat der Zweiten Sophistik und Smyrna ihre unbestrittene Hauptstadt. Überall im römischen Osten gab es Hochschulen, das ganze Land nahm an dieser Leidenschaft teil.

Später, im 4. Jh. n. Chr., scheint ein Bestreben nach Zusammenlegung des Hochschulunterrichts sich geltend zu machen. Wenigstens tritt eine kleine Zahl von Studienzentren jetzt in den Vordergrund: Die Akademie von Athen – immer noch-, das Museion von Alexandria sowie die Hochschulen von Rom, der neuen Hauptstadt Konstantinopel, Berytos (Beirut) und Edessa-Nisibis. In Rom lehrten die staatlichen Professoren Grammatik, lateinische und griechische Rhetorik, Philosophie, Medizin und Recht, in Athen vorwiegend Philosophie, Literatur und Rhetorik. Beirut war für das römische Recht berühmt. Auf diese Studienzentren kann man das Wort „Universitäten“ anwenden, und das ist kein Anachronismus. [4]

Durch die Verordnung vom 27.02. 425 n. Chr. errichtet Kaiser Theodosius II. in Konstantinopel eine Staatsuniversität, die in der Hauptstadt ein wahrhaftes Monopol des Hochschulunterrichts genießt (nur das private Hofmeistertum bleibt davon unberührt). Privatstunden sind ihren Professoren untersagt. Sie sollen ihren Unterricht in den zu Hörsälen eingerichteten Räumen an der Nordseite des Platzes am Kapitol (Universitätsbau) geben [5] . Der Lehrkörper umfaßt: für den Unterricht in der lateinischen Literatur 3 Redner und 10 Grammatiker, für griechische Literatur 5 Redner und 10 Grammatiker, schließlich für die Hochschulstudien 1 Professor der Philosophie und 2 Professoren der Rechtswissenschaft. [6] An der Universität waren auch manche lateinische Lehrer tätig, von Griechen wirkten hier Libanios (340-342, 348-354 n. Chr.) und Themistios, durch große Gehälter und Ehrenrechte ausgezeichnet, denen aber auch Pflichten (Notwendigkeit von Urlaubsgesuchen, Versetzungen u. ä.) entsprachen. Im Jahre 400 fügte man eine juristische Fakultät hinzu, die es bisher nur, allein für sich in Berytos (Beirut) gegeben hatte; desgleichen fand die Gründung einer Bibliothek statt.

Im griechischen Osten setzt die byzantinische Erziehung ohne Unterbrechung die klassische Erziehung fort. Die Universität von Konstantinopel ist von 425-1453 ein Mittelpunkt fruchtbarer Studien und gleichsam die Säule der klassischen Überlieferung geblieben. Im Laufe der Zeit hat sie eine Fülle von Wechselfällen erlebt, Perioden von Verfall, ja sogar von vorübergehender Auflösung, die aber durch glänzende Wiederaufschwünge wettgemacht wurden (Neueinrichtungen: 863, 1045, im 13. und zu Beginn des 14. Jh.). Ihr Unterricht bleibt stets durch die klassischen Normen bestimmt: zuunterst die freien Künste (artes liberales), an der Spitze die Rhetorik, die Philosophie und das Recht. Ihre Rolle in der Gesellschaft bleibt dieselbe. Sie hat eine Auslese heranzubilden, aus der das Reich sein Beamtenpersonal ergänzen kann. Seit Kaiser Diokletian ist der römische Staat eine bürokratische Monarchie geworden, eine Verwaltung von Schreibern. Es besteht daher kein Zweifel, daß die Kaiser des 4. Jh.s die Ergänzung ihrer Beamtenschaft im Sinne gehabt haben, als sie sorgfältig ausgearbeitete Gesetze über das Unterrichtswesen erließen. So verpflichtet Kaiser Valentinian im Jahre 370 den Stadtpraefekten, ihm alljährlich eine Liste von Studenten vorzulegen, die sich bei ihren Studien ausgezeichnet haben, damit die Verwaltung sie je nach Bedarf nützlich verwenden kann. [7]

Die Lobredner von Autun betonen die herrliche Zukunft, die ihren Rhetorikschülern winkt: Gerichte, Finanzbehörden, Provinzialverwaltungen, leitende Stellen in Ministerien. [8] Der Gedanke daran ist überall vorhanden. Ausonius ermahnt seinen Enkel, zu studieren, indem er ihm am Beispiel seiner Familie zeigt, wie die Beredsamkeit zu den höchsten Stellen im Staat führt. [9] Symmachus feiert in der Literatur den Weg, der den Zugang zu den Ämtern eröffnet. [10] Der heilige Chrysostomos zeigt uns, wie in Antiochien die ehrgeizigen Eltern ihre Kinder zum Studium der Literatur treiben, damit sie Erfolg im Dienst des Kaisers haben. [11]

Dies waren keine leeren Versprechungen oder trügerischen Hoffnungen. Die Praxis der kaiserlichen Regierung zeigt, daß mit wenigen Ausnahmen die hohen Verwaltungsstellen in der Regel den ehemaligen Schülern der Hochschulen vorbehalten waren.

Wie zur Blütezeit des Kaiserreichs ist die Anwaltschaft einer der Hauptberufe, der sich den in der Literatur gebildeten jungen Leuten bietet und ihnen erlaubt, anschließend zu den Verwaltungsämtern zu gelangen. Eine Anordnung Theodosius´ II., die von Justinian wieder aufgegriffen wird, [12] zeigt es als üblich, die Provinzgouverneure (deren Befugnisse im wesentlichen richterlicher Art geworden waren) aus den hervorragenden Anwälten zu rekrutieren.

Aber darüber hinaus stellt man nicht ohne Verwunderung fest, daß bedeutende Stellen laufend Männern ohne juristische oder Verwaltungs-Ausbildung gegeben wurden, einfachen Rednern, die kein anderes Talent als das der Rede bzw. der literarischen Kunst besaßen (z. B. Ausonius). Hier blieb das spätrömische Reich der klassischen Überlieferung treu. Die Rhetorik ist die Krone des Studiums. Schon Isokrates pries den Logos: Die Redekunst lehrt gleichzeitig richtig denken, richtig handeln; richtig schreiben und sogar richtig leben. Die überlieferte Erziehung bildet Menschen mit geradem und feinem Geist. Alles übrige ist Sache der Praxis.

Im Weströmischen Reich werden im Gegensatz zum Oströmischen Reich die juristischen Funktionen nicht durch Fachjuristen wahrgenommen, sondern durch Männer mit höherer allgemeiner Schulbildung, die ihre literarisch-rhetorische Vorbildung in den Dienst ihrer öffentlichen Sachwalter- oder Verwaltungsaufgabe stellten. Die rhetorische Ausbildung schulte den Redeschüler an Rechtsfällen (Gerichtsreden), der grammatische Unterricht an juristischen Texten für seine künftigen juristischen Aufgaben. Das spätrömische Reich bleibt ganz antik auch in dieser Verachtung des Fachmannes. [13]

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Zu den antiken Fächern

Paidea bedeutet zugleich Erziehung und Bildung. Die hellenistische Bildung ist in erster Linie eine Bildung von Vortragskünstlern.

Der vollständige Unterricht eines Philosophen mußte grundsätzlich drei Teile behandeln: Logik, Physik und Ethik - die Lehre vom Denken, die Lehre von der Welt und die Lehre vom Sittlichen.

Die drei antiken Schulformen

 

Schulform

Unterrichtsstoff

bis zu welchem Lebensjahr

1

Elementarschule

Unterricht in Buchstabenkunde, Zahlenkunde, Lesen, Schreiben und Rechnen.

7.-11./12.

2

Grammatikschule

Lektüre der Klassiker.

16.

3

Rhetorenschule

Studium und Einübung der Rhetorik, ihres Systems und der klassischen Redner. Artes liberales: Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Geometrie, Arithmetik, Astronomie, Musiktheorie.

20.

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Die artes liberales

Artes liberales = die „freien Künste”, d.h. die Wissenschaften, die einem freien Mann anstehen, im Gegensatz zu den “schmutzigen”, d.h. mit körperlicher Arbeit verbundenen banausischen oder handwerksmäßigen Künsten (artes sordidae), die in der antiken Gesellschaft als für einen Freigeborenen nicht standesgemäß galten. Der Ausdruck artes liberales bezeichnet den Inhalt der höheren Allgemeinbildung in Rom. Es handelt sich dabei um einen Kanon von Fächern des höheren Unterrichts, der Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik umfaßte und wohl schon in frühhellenistischer Zeit als Folge des höheren Unterrichts der Sophistik entstanden ist. Trotz gelegentlicher Versuche, den Kreis der sieben artes liberales durch Aufnahme anderer Disziplinen (z.B. Philosophie, Medizin, Gymnastik) zu erweitern, blieb dieser Bildungskanon über ein Jahrtausend konstant.

In der Praxis des antiken höheren Unterrichts nahmen die Grammatik und die Rhetorik den wichtigsten Platz ein, die Dialektik wurde vor allem im Rahmen der Philosophie studiert, die mathematischen Disziplinen traten besonders in Rom ganz in den Hintergrund. Die Folge war, daß einerseits die Rhetorik mehr und mehr aus dem System des höheren Unterrichts herausgelöst wurde und den Rang eines selbstständigen Studiums im Anschluß an den höheren Unterricht erhielt, und andererseits die dominierende Stellung der Grammatik als Sprach- und Literaturwissenschaft dazu führte, daß der Grammatikunterricht zum höheren Unterricht schlechthin wurde, in dessen Rahmen dann auch die übrigen artes liberales mitunterrichtet wurden, soweit es notwendig erschien.

In der Spätantike wurden die “Zahlenfächer” Arithmetik, Geometrie, Astromomie und Musik (als theoretisch-mathematische Disziplin) unter der Bezeichnung Quadrivium („Vierweg”), seit dem 9.Jh. n. Chr. die “Wortwissenschaften” Grammatik, Dialektik und Rhetorik als Trivium („Dreiweg”) zusammengefaßt. Die systematische Darstellung der artes liberales in spätrömischen Enzyklopädien trug wesentlich dazu bei, daß diese Fächer dem Mittelalter als ein festes System des allgemeinbildenen höheren Unterrichts der Antike überliefert wurden. Bei den frühesten Universitätsgründungen des Mittelalters haben die antiken artes liberales in Form der propädeutischen Artistenfakultäten die Grundlage des Universitätsstudiums gebildet.

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Das Studium

Das Studium folgte auf den Elementar- und den höheren Unterricht als 3. Stufe des antiken Bildungsganges, vor allem als Studium der Philosophie (zuerst bei Platon), in zweiter Linie als Studium der Rhetorik (zuerst bei Isokrates, 436-338 v. Chr.). Seit hellenistischer Zeit rivalisierten Philosophie und Rhetorik miteinander: beide Disziplinen erhoben den Anspruch, eine umfassende Menschenbildung zu vermitteln. Allmählich erfolgte ein Ausgleich, indem die Philosophen z.T. auch Rhetorik, die Rhetoren z.T. auch Philosophie in ihr Studienprogramm aufnahmen und außerdem häufig beide Disziplinen nebeneinander studiert wurden, wobei in Griechenland das philosophische, in Rom das rhetorische Studium vorherrschte. Einen praktischen Zweck hatte das Studium der Medizin in Griechenland und das der Rechtswissenschaft in Rom: es diente gewissermaßen der Berufsausbildung.

In klassischer Zeit war das Studium ganz privater Natur und beruhte vor allem auf das persönliche Lehrer-Schüler-Verhältnis, was freilich nicht ausschloß, daß gelegentlich sehr hohe Studiengebühren (z.B. bei Isokrates) bezahlt werden mußten. Die Dauer des Studiums war ganz unterschiedlich und blieb ganz dem persönlichen Ermessen überlassen; sie schwankte zwischen einem und zehn Jahren. Eine Abschlußprüfung gab es nicht.

Seit dem 2. Jh. n. Chr. trat allmählich neben das private das öffentliche Studium, so vor allem in den Bildungszentren Rom, Athen, (später) Konstantinopel, Alexandreia, Berytos (Beirut) und Antiocheia, wo öffentlich-staatliche Lehrstühle für Rhetorik und Philosophie, teilweise auch für Grammatik und Rechtswissenschaft errichtet wurden. In diesen Städten entwickelte sich auch ein regelrechtes Studentenleben mit festen Bräuchen, die sich zum Teil bis in die Gegenwart erhalten haben.

 

Die Studenten

Die Studenten in der Antike genossen ähnliche Privilegien wie die Professoren. Sie durften bis zum 25. Lebensjahr studieren, ohne den Fron- und Steuerpflichten ihrer Heimatstädte zu unterliegen. [14] Außerdem waren sie von der patria potestas befreit. [15] Die Studenten waren jeweils nur bei einem einzigen Professor eingeschrieben und traten durch einen Eid in ein Loyalitätsverhältnis zu ihm ein. Die anderen Professoren hörten sie nur bei deren öffentlichen Vorträgen. So kam es u.a. in Athen und Antiochia zu Rivalitäten zwischen den Professoren um Schüler und zu Streitigkeiten zwischen den Gefolgschaften. Schlägereien waren an der Tagesordnung. [16] Libanios begann in Antiochia mit ca. 15 Studenten, doch hatte er in Konstantinopel zuvor zeitweilig 80. [17]

Studenten wie Lehrer der Athener Universität kamen aus dem ganzen Römischen Reich, überwiegend aus dem griechisch sprechenden Osten, aus Kleinasien, Syrien, Arabien und Ägypten. Daraus ergab sich oft eine landsmannschaftliche Verbindung innerhalb der einzelnen Schulen. Eunap berichtet von den Spannungen einerseits zwischen  den Studenten und den Bürgern und andererseits zwischen den Studenten der einzelnen Professoren. Die Feindschaft zwischen den Studenten und Bürgern führten dazu, daß der Lehrbetrieb aus dem Auditorium auf der Agora in die außerhalb gelegenen Privathäuser der Professoren verlegt wurde.

Die Römer haben in ihren Rechtsschulen einen Typus des Hochschulunterrichts eigener Art geschaffen. Der iuris prudens, der Mann der das Recht kennt, beherrscht die Gesetze, Gewohnheiten, Verfahrensregeln, das Repertoire der “Jurisprudenz”, dies Inventar von Präzedenzfällen, auf die man sich in einem bestimmten Fall beziehen kann, um sich auf die Autorität der Analogie, der Überlieferung zu berufen.

Institutionell wurde der Unterricht im Recht bis auf die Zeit Ciceros im Rahmen einer praktischen Ausbildung erteilt. Der Lehrer ist sicher eher ein Praktiker als ein Professor. Aber die jungen Schüler, die ihn umgeben, wohnen den Rechtsberatungen bei, die er seinen Kunden erteilt, und belehren sich im Zuhören, denn natürlich weiß er jede Gelegenheit zu benutzen, um ihnen die feinen Einzelheiten des Falles, das Ineinandergreifen der Folgen zu erklären. Erst von der Generation Ciceros ab führt die römische Rechtspädagogik neben dem praktischen Unterricht, respondentes audire, einen systematischen Unterricht ein, instituere.

Indem das römische Recht alle Hilfsmittel der griechischen Logik verarbeitet, bemüht es sich von nun an, sich den Anhängern als Lehreinheit, als System vorzustellen, ein System, das aus einer Gesamtheit von Grundsätzen, Einteilungen und Klassifizierungen besteht und sich auf eine genaue Terminologie und genaue Definitionen stützt. [18]

Der juristische Unterricht strebt dahin, sich in schärfer umrissenen Einrichtungen von offiziellem Charakter zusammenzufassen. Er folgt der Entwicklung, welche das Amt des Rechtsberaters selbst erfährt, an den er sich anlehnt.

Von Augustus ab sind die fähigsten prudentes mit offizieller Autorität ausgestattet, indem sie das ius publice respondendi erhalten. Im 2. Jh. findet man als feste Einrichtungen Beratungsbüros, die gleichzeitig öffentliche Rechtsschulen sind. Diese Schulen waren in den Tempelbezirken eingerichtet, ohne Zweifel, um die Hilfsquellen der Fachbibliotheken zu nutzen, die an sie angebaut waren.

Im selben Zeitpunkt vollendet die juristische Pädagogik die Ausarbeitung ihrer Hilfsmittel. Aus dem 2. Jh. stammen die „Institutiones” des Gaius, die, eine vorbildliche systematische Abhandlung der Elemente des römischen Rechts in vollendeter Anpassung an die Bedürfnisse eines Anfängerunterrichts darstellen. Nebenher vollzieht sich die Abfassung einer ganzen Reihe von Handbüchern des Prozeßverfahrens, von Kommentaren, von methodischen Sammlungen, Digesta, Auszügen aus den Arbeiten von Rechtsgelehrten. Diese schöpferische Tätigkeit erreicht ihren Höhepunkt zur Zeit der Severer. Der Unterricht, der nun im Besitz von Texten anerkannter Autorität ist, baut sich um sie herum auf. Indem der Professor des Rechts dem Grammaticus die jahrhundertelange Erfahrung entlehnt, die er im Umgang mit den Dichtern erworben hat, widmet er sich in der Hauptsache der Erklärung, der Auslegung seiner Autoren.

Die Rechtsschule von Beirut (Berytos), der blühendste Mittelpunkt des römischen Rechtsstudiums im Orient, scheint sich Anfang des 3. Jh. n. Chr. gebildet zu haben, indem sich das in Beirut befindliche Zentrum für urkundliche Publikation und das dortige Archiv für kaiserliche Gesetze und Verfassungen für den Orient zunutze machte. Schon im Jahre 239 erscheint sie in voller Tätigkeit und zieht Studenten aus so fernen Provinzen wie Kappadokien an. Ihr Ansehen dauert durch das ganze 4. und 5. Jh. und wird erst allmählich von dem Konstantinopels aufgewogen.

Der Unterricht, der zur christlichen Zeit nachmittags in den Räumen der Kathedrale des Eustathius erteilt wurde, umfaßte in der Regel 4 Jahre.

Voraussetzung zum Studium an der Rechtsschule von Berytos waren Kenntnisse in Latein, Grammatik und Rhetorik. Das Studium begann nach den Sommerferien oder im Frühjahr. Gelehrt wurde wochentags; täglich sechs Stunden. Der Professor las, erklärte, erläuterte die grundlegenden Texte. Die Studenten schrieben die Vorträge mit und wiederholten den Stoff zuhause. Es gab einen fest umrissenen Lehrplan. Studenten des ersten Jahres hießen dupondii („Rekruten”, benannt nach deren Entlöhnung), sie lernten die institutiones des Gaius und die „Libri ad Sabinum” des Ulpian. Im zweiten Jahre hießen sie edictales, weil sie dann die libri ad edictum Ulpiani und die Digesten studierten. Im dritten Jahre nannte man sie Papinianistae nach dem dann zu lesenden Autor („Responsa Papiniani”), im vierten Jahr wurden sie dann lytai, d.h. solutores causarum, weil sie nun Fälle zu “lösen” hatten. Sie studierten dann die „Responsa Pauli”. Unter Justinian scheint ein fünftes Studienergänzungsjahr für die kaiserlichen Constitutionen hinzugekommen zu sein, die Studenten hießen dann prolytae. Diese Constitutionen werden von den Jahren zwischen 291 und 295 ab in Gesetzbüchern zusammengefaßt. Sie wurden auf privater Initiative (erst mit Theodosius II. im Jahre 439 verkündet ein Kaiser einen amtlichen Codex) zusammengestellt, um den Unterricht zu erleichtern. Dieser wird in Beirut wie in Konstantinopel auf Latein gegeben. Erst zwischen 381/2 und 410/420 wird das Griechische üblich, ohne daß es ihm übrigens gelingt, das Lateinische vollkommen zu verdrängen. Dieses behauptet mit wechselndem Glück mindestens teilweise seine Stellung bis auf Justinian.

Abgeschlossen wurde das Studium durch eine testificatio, [19] die für eine Rechts- oder Verwaltungstätigkeit gefordert wurde. Anders als das Jurastudium war der Rhetorikunterricht nicht nach Studienjahren gestaffelt, mit 25 Jahren beendeten die Studenten ihre Lernzeit. Abschlußprüfungen kannte man hier nicht, wohl aber Empfehlungsschreiben der Professoren für ihre Kandidaten.

Die Studentenschaft war in societates gegliedert, die unter magistri standen. Disziplinprobleme ergaben sich aus dem Hang der jungen Leute zu Wein, Weib und Gesang, [20] zu Ball- [21] und Würfelspiel, zu Pferden und Theater, [22] zu Magie und Raufereien. [23] Floß Blut, griff der Statthalter ein und setzte wohl auch die Professoren ab. [24] Justinian beanstandet den Jux, der mit den Neulingen getrieben werde. Die Prügelstrafe war verbreitet. Wegen schlechter Führung konnten Studenten ausgeschlossen werden, nicht aber aus mangelnder Begabung.

 

Die Studenten an der Universität von Nisibis

Die Akademie von Nisibis bildete den Ausgangspunkt für die nestorianische Mission in Persien, Indien und China. Darüber hinaus besaß sie später eine Schlüsselstellung in der Vermittlung griechischen Geistesgutes an die islamischen Gelehrten. Über die Hohe Schule von Nisibis informieren uns die Statuten, die am 21.10.496 n.Chr. in Kraft traten und 590 ergänzt wurden. Außer den theologischen Fächern wurden Grammatik und Rhetorik gelehrt, die medizinische Hochschule war von der theologischen getrennt.

Verwaltung und Disziplin unterstanden einem „Hausmeister” (Bursarius), er wurde auf je ein Jahr gewählt. Wichtige Entscheidungen fällte die Gemeinschaft, sie konnte den Bursarius relegieren, wenn er seine Vollmachten überschritt. Die Schule befand sich in einem klosterähnlichen Bau. Die Studenten kamen von weit her, sie nannten sich „Brüder”. Sie wohnten in der Schule selbst und durften nur, wenn dort kein Platz mehr war, ein Zimmer in der Stadt nehmen. Zeitweilig studierten 800 junge Männer in Nisibis. Die Studenten wurden einer Eingangsprüfung unterzogen und studierten drei Jahre. Der Unterricht begann mit dem Hahnenschrei und endete mit dem Abendpsalm, die Teilnahme an den Lehrveranstaltungen war obligatorisch. Störung des Unterrichts war strafbar, das Belegen der Plätze am Vorabend unstatthaft. Die Semesterferien dauerten von August bis Oktober. In diesen Monaten durften die Studenten bezahlte Arbeit annehmen, doch nicht in Nisibis selbst. Offenbar fürchteten die Einheimischen eine billige Konkurrenz.

Die disziplinarischen Bestimmungen entsprachen im allgemeinen denen im Römischen Reich: die Studenten sollten sich nicht mit Frauen abgeben, nicht dauernd in die Kneipen laufen und keine Gelage außerhalb der Schule abhalten. Außerdem sollten sie nicht zaubern, lästern oder lügen. Betteln war verboten; wem etwas fehle, der solle sich an den Bursarius wenden. Die Studenten lebten normalerweise von eigenem Geld, denn es wurde ihnen untersagt, Wucher zu treiben und Geschäfte zu machen. Nur in Ausnahmefällen war es gestattet, Geld durch Privatunterricht für Söhne der Stadt zu verdienen. Starb ein Student ohne Testament, so erbte die Schule. Kleidung und Haartracht (Tonsur) waren vorgeschrieben. Kranke wurden versorgt. Die Buchendleihe war streng beaufsichtigt, niemand solle seinen Namen in ein Buch der Akademie schreiben. Untersagt war ferner, flüchtige Sklaven in den Zellen zu verbergen und ungenehmigte Studien- oder Handelsreisen ins byzantinische Ausland zu unternehmen. Der Student unterstand der Schuldisziplin, Apellation an städtische Gerichte führte zum Ausschluß. Gewalttäter wurden öffentlich geprügelt, das erste Vergehen nach der dritten Prügelstrafe hatte die Exmatrikulation zur Folge. Ebenso mußten solche Studenten Schule und Stadt verlassen, die ausgelernt hatten.

 

Das Schicksal der antiken Universitäten

Bis auf wenige Überbleibsel verfielen die Hochschulen der alten östlichen Reichshälfte spätestens in der Türkenzeit (Ende der Universität von Konstantinopel im Jahre 1453), die der ehemals westlichen Reichshälfte im frühen Mittelalter (Völkerwanderungszeit). Nur wenige Reste bestanden weiter, so die Ärzteschule von Salerno, die theologische “Universität auf den Inseln” auf Patmos und möglicherweise Bologna.

Der Niedergang des antiken „Hochschulwesens” – von einem völligen Neuansatz zu Beginn des Mittelalters kann kaum gesprochen werden- wurde zuerst in Bologna überwunden, indem etwa seit dem Jahre 1100 auf das Justinianische Corpus iuris (6. Jh. n. Chr.) zurückgegriffen wurde. Aus diesen italischen Wurzeln entstand die abendländische Universität.

 

Antike Studentensitten

Gewöhnlich nimmt man an, die Studentenkorporationen hätten im Mittelalter ihren Ursprung; aber aus den Schriften des LIBANIOS, GREGOR von Nazianz, BASILEIOS u.a. erhellt, daß die studentischen Bräuche (Sauf- und Paukwut, eigene Tracht, Pennalismus, eigene Sprache, eigene Gesetzgebung, Commentwesen) auf die Antike zurückgehen.

Zu Athen bestand schon im 5. Jh. v. Chr. eine „Dionyseia”, welcher Alkibiades vorstand; Platon berichtet in seinem Symposion, daß einst Sokrates diese besuchte und beim Kommers den Alkibiades, der zwar einen guten Stiefel führte, samt seinen Kommilitonen unter den Tisch gesoffen habe. Auch Horaz spricht von großen Trinkgelagen gelehrter junger Männer (Studenten), die unter einem Rex vini (Senior), in Masiker und Falerner kneipten; der Byzantiner Glykas erwähnt schon im 1. Jh. n. Chr. Akademiker, die sich unter der Leitung von Philosophen durch Aufzüge, Saufgelage, Schuldenmachen, Pennalismus und Farben ausgezeichnet haben.

Im 2. und 3. Jh. n. Chr. gab es auf der Universität zu Athen geschlossene Studentenverbindungen (Choroi) mit dem ausgesprochenen Zweck, für einen landsmännischen Dozenten Partei zu ergreifen und ihm Hörer zuzubringen, also „Landsmannschaften”. Drei athenische Korporationsnamen sind uns bekannt: Sparta, Theseiden, Herakliden. [25] Mit den dichterischen Worten „Chor”, „Schar”, „Bruderschaft” bezeichnet man die Gruppe der treuen, fast fanatischen Mitschüler ein und desselben Lehrers, um der geistigen Einheit, unter der sie versammelt sind, einen fast religiösen Klang zu geben. [26] In der Tat gab es damals ein organisiertes Studentenleben mit den zugehörigen Bräuchen - ähnlich wie bei den “Nationen” der Universitäten des westeuropäischen Mittelalters. [27]

Im „Keilen” leisteten diese “Landsmannschaften” Großes. Schon bevor der Mulus nach Athen kam - manche schon mit 16 Jahren-, wurde er von den einzelnen Korpsbrüdern gekeilt und verpflichtet. So z.B. Libanios. Und gar erst, wenn einer zur alma mater selbst kam! Da zog der Senior mit den bemoosten Häuptern und Burschen nach dem Piräus, ja selbst bis zum Vorgebirge Sunion, um auf jeden Neuankömmling zu lauern. Natürlich kam es dabei leicht zu gegenseitigen Angriffen mit “Keulen, Steinen, ja sogar mit dem Schwerte”. Manche trugen Schmisse davon, “die sie noch als alte Herren mit Rühmen aufzuweisen vermochten”. Manchmal arteten diese Schlägereien in solche Schlachten aus, daß die Polizei einschreiten mußte und die Rädelsführer vor den Proconsul in Korinth, der Universitätsrichter war, schleppte.

War nun ein solcher Ankömmling unter großen Mühen geworben, so war der „Fuchs” fertig; „Neuling” hieß er. Er wird alsdann „von jedem, der da will, bald auf gröbere, bald auf feinere Weise gehänselt; denn dadurch, meint man, wird am besten die Üppigkeit gedämpft und der junge Mensch zahm gemacht”, berichtet Gregor von Nazianz. [28]

Nach dieser Lehrzeit folgt die feierliche Rezeption zum Burschen. Nach Olympiodoros wird der Aufzunehmende „in feierlichem Aufzug über den Markt zum Bade geführt. Die welche ihm voranschreiten, erheben ein gewaltiges Geschrei, daß er stehen bleiben solle, und drängen ihn zurück. Dagegen schieben diejenigen, die ihm folgen, ihn vorwärts, und diese erlangen zuletzt den Sieg. Der junge Mann wird eingelassen, badet und hat damit die Weihe eines Studenten empfangen”. Als äußeres Zeichen erhält er den „Flaus”. „Dann kommt natürlich ein solenner Kommers, wozu auch Dozenten geladen werden”. Der Kirchenvater Gregor von Nazianz findet diese Vorgänge, denen er selber beigewohnt hat, im Grunde ganz artig und possierlich. - Die Bräuche sind anscheinend teilweise dem Mysterienkult entnommen.

Der Begriff Symposion, wörtlich “Zusammentrinken”, kann wegen seines vielfältigen Bedeutungsinhalts kaum übersetzt werden, entspräche aber, wenn auch nicht im engeren Sinne studentisch, am ehesten einem Kommers. Es gab dabei einen Präsiden, den Posiarchos, lat. magister bibendi, der anordnete, ob und wie - auch strafweise- getrunken und gesungen wurde. Der Rund- oder Einzelgesang nannte sich Skolion. Im 5.Jh. wurden die beliebtesten Skolien in einer Art Kommersbuch gesammelt. Sie hatten oft einen patriotisch-politischen Hintergrund. Zur Unterhaltung wurden auch Künstler gemietet.

Wenn die Kneipe losging, galt es vor allem, den Komment stramm einzuhalten: Der Vorsitzende bestimmt nach alter Symposionsitte das Mischungsverhältnis von Wein und Wasser; man trinkt sich gegenseitig zu, trinkt ohne abzusetzen ganze Hörner (aus Metall oder Ton) aus oder leert den Pokal nach dem Takt einer Flötenmelodie. Bei Verstößen heißt es Straftrinken. Rund- und Einzelgesang erschallt. Ist die Urfideltas eröffnet, wird die Ausgelassenheit immer ärger: man balanciert mit den Gefäßen, tanzt wild aufeinander zu. Noch mehr! Basileos, der selber in Athen studierte, jammert späterhin: „Einer tritt in die Mitte und veranlaßt die Zechgenossen mittels krummer Röhren zum gleichmäßigen Rausch...; wenn jeder die ihm zugewendete Röhre bekommen hat, trinken sie in einem Atem wie Stiere aus einem Wasserbehälter und suchen soviel einzuschlürfen, als ihnen das Kühlfaß durch die silbernen Röhren von oben zusendet.”

Das Symposion konnte sich im Komos fortsetzen, einem nächtlichen Unfug mehr oder weniger Betrunkener. Die Ausbreitung des Komos hängt mit dem Dionysoskult zusammen und findet sich offenbar hauptsächlich in vornehmeren Kreisen. Das studentische „gassatim gehen” mag hier seinen Ursprung haben.

Des Weines voll schwärmen sie nun in der Stadt umher, brechen auf ihren nächtlichen Umzügen in die Häuser ärmerer Bürger ein, johlen, brüllen die Leute aus dem Schlafe, prügeln nicht selten Handwerksleute und mahnende Polizisten. Auch sonst fehlte es nicht an übermütigen und teilweise rohen Streichen. Einmal „rissen sie die eherne Statue eines mißlebigen Professors zu Boden und prügelten, wie es in der Schule gemacht wird, deren Rücken mit einem Riemen, wobei sie sagten, diesem Mann gehörten diese Schläge von rechtswegen in Person”. Ein anderer Fall: „Ein Pädagoge hatte sich einigen jungen Herren verhaßt gemacht. Sie setzten ihn auf einen Teppich, den sie mit den Händen hielten. Dann ließen sie den Teppich samt seiner Last plötzlich, soweit es ging, in die Höhe schnellen und wieder herab”. Libanios fährt fort: „Bisweilen kann sich das Opfer auf dem Teppich halten und kommt heil davon; manchmal aber fällt es herab und verletzt sich sogar lebensgefährlich”. [29]

Nun war es Sache des Jungburschen, in den obenerwähnten Kämpfen seine Kraft zu zeigen. Hatte er seine Zeit abgedient, so wurde er inaktiv, d.h. von jenen Schlägereien dispensiert. Und zog er dann ins „öde Philistertum”, und „erschien der Tag des Abschieds, dann erfolgten Abschiedsreden, Geleitsprüche, Klagen, Tränen: denn nichts ist so traurig für die, welche in Athen zusammengelebt haben, als sich von dieser Stadt und voneinander zu trennen”, schreibt Gregor.

An Rauhbeinigkeit ließ die athenische Studentenschaft nichts zu wünschen übrig. So schildert uns Libanios in drastischer Weise den Verlauf eines Kollegs: „Sind die Studenten zu einem publicum eingeladen worden, so kommen sie heran, als wenn sie auf Seilen gingen, und ehe sie hereintreten, erregen sie noch durch ihr Zögern den Unwillen der bereits Versammelten, welche mit Zischen, Schimpfworten und Trampeln die Verspäteten empfangen. Hat der Vortrag begonnen, so unterhalten sie sich mit Winken über Rennsport, Schauspiel und Ballett oder über einen gelieferten oder erst zu liefernden Kampf. Dann stehen die einen wie steinerne Bildsäulen da, ohne die Hände (zum Applaus) zu rühren, oder sie stieren mit beiden Händen in ihren Nasen. Die anderen bleiben sitzen, obwohl so vieles zum Aufstehen (Zeichen des Beifalls) reizen sollte, und nötigen den, der aufsteht, zum Niedersitzen. Andere zählen die später Hereinkommenden; wieder andere begnügen sich damit, die Blätter zu betrachten...Noch Kindischeres treiben sie: durch fingiertes Klatschen stören sie das echte; sie hindern das Beifallsrufen und ziehen durch erdichtete Nachrichten oder durch die Aufforderung zum Bade so viele wie möglich von der Vorlesung ab...” [30]

Nicht selten schrumpfte ein anfangs stark besuchtes Kolleg zu einem winzigen Häuflein zusammen, weil die meisten dann schwänzten; denn die Hauptsache war ihnen das Trinken. „Trinkgelage reihen sie an Trinkgelage”, eifert Libanios; war das Moos verschwunden, richtete man seinen Blick auf´s Pumpen. „Sie vergeuden das Geld, das ihnen die Eltern zur Bereinigung des Honorars gesandt haben, für Wagenlenker, Würfel und noch schlimmere Dinge.” Diese schlimmeren Dinge läßt uns Libanios ahnen, der sich glücklich preist, daß er als Student die liedersingenden Hetären vergeblich locken ließ.

Neben den mutwilligen Kneipbrüdern gab es auch brave junge Leute voll Frömmigkeit und Tugend. Der heilige Gregor von Nazianz [31] und der heilige Basilios im 4. Jh. sowie Zacharias der Scholastiker [32] und Severus von Antiochien am Ende des 5. Jh. in Beirut gehören zu dieser Gruppe.

Die Durchgängigkeit der Studentensitten von der Antike bis in die Neuzeit ist aufgrund der großen Übereinstimmungen nicht von der Hand zu weisen, bedarf aber besonders für die Übergangszeit vom späten Altertum zum frühen Mittelalter einer Stützung durch Belege. Die Verbindungslinie, falls es sie denn geben sollte, müßte über Bologna führen.

 

Quellen, Literatur und Endnoten

Quellen:

Zum spätantiken Bildungswesen müssen wir unser Wissen aus Einzelangaben zusammensetzen. Das meiste Material bieten die Selbstzeugnisse von Grammatikern wie Palladas und Rhetoren wie Eumenius, Libanios und Ausonius, weiterhin die Professorengedichte und die Sophistenviten von Eunap, Marinos und Damaskios. Ausführlich sind Kirchenväter wie Hieronymus und Augustinus, die drei Kappadoker und Johannes Chrysostomos. Das Diocletiansedikt nennt Lehrerhonorare; zahlreiche Gesetze regeln die Rechte und Pflichten von Lehrern und Schülern. Für die Universitäten von Berytos, Edessa und Nisibis sind syrische Quellen bedeutsam, insbesondere Zacharias Rhetor.

Literatur:

1.    A. BAUMSTARK, Geschichte der syrischen Literatur, 1922;

2.    W.W.CAPES, University life in ancient Athens, New York 1922, 134 S.;

3.    I. B. CHABOT, L´ ecole de Nisibe, son histoire, ses statuts: Journal Asiatique 9, 13 (1896), S. 43-93;

4.    Alexander DEMANDT, Die Spätantike, München 1989; S. 352-373;

5.    Ludwig FRIEDLÄNDER, Sittengeschichte Roms, 4 Bände, Leipzig 1862-71;

6.    H. GELZER, Eine Universität des Alterthums. Literarische Beilage der Karlsruher Zeitung, 1879, Nr. 10f.;

7.    Karl KONRAD, Antike Studentenverbindungen, in: Der Convent 9 (1958), S. 69.

8.    Henri-Irenee MARROU, Geschichte der Erziehung im Klassischen Altertum, Freiburg - München 1957, 647 S.;

9.    KÜBLER, Rechtsunterricht: RE I A (1914) S. 394ff.;

10. MÜLLER, Studentenleben im 4. Jh. n. Chr., in: Philologus LXIX (1910) S. 292-317;

11. F. SCHEMMEL, Die Hochschule von Athen im 4. u. 5. Jh. n. Chr.: Neue Jbb. 22 (1908), S. 494ff.;

12. F. SCHEMMEL, Die Hochschule von Konstantinopel im 4. Jh. n. Chr.: Neue Jbb. 22 (1908), S. 147-168.;

13. F. SCHEMMEL, Die Hochschule von Alexandria im 4. u. 5. Jh. n. Chr.: Neue Jbb. 24 (1909), S. 438-457;

14. F. SCHEMMEL, Das Athenaeum in Rom: Wochenschrift für klass. Philol. 91 (1919), S. 91-96;

15. F. SCHEMMEL, Das Athenaeum in Rom: Philogische Wochenschrift 41 (1921), S. 982-984;

16. F. SCHEMMEL, Die Schule von Berytos: Philogische Wochenschrift 43 (1923), S. 236-240;

17. F. SCHEMMEL, Die Schule von Karthago: Philogische Wochenschrift 44 (1927), S. 1342ff;

18. Paul SSYMANK, Das Hochschulwesen im römischen Kaiserreich bis zum Ausgang der Antike, Festschrift 51. Phil. Vers. Pos. 1911, Posen 1912, S. 93-124 (Nachdruck Amsterdam 1956);

19. STAMMBUCH des Studenten, Stuttgart 1879, S. 25-43;

20. Eduard STEMPFLINGER, Antike Studentenverbindungen, in: Wiener Blätter für die Freunde der Antike, Wien 1931, S. 141-143;

21. Eduard STEMPFLINGER, Antike Studentenverbindungen, in: Der Convent 9 (1958), S. 22ff.;

22. Studentenverbindungen im alten Athen des 4. Jh. n. Chr., in: CC-Blätter 1982, S. 94;

23. Karl STROBEL, Studenten und Hochschule in der Antike, in: Der Convent 36 (1985), S. 56ff.

24. John William Henry WALDEN, The Universities of Ancient Greece, London - New York 1912, XIV, 367 S.;

25.  Franz WIEACKER, Recht und Gesellschaft in der Spätantike, Stuttgart 1964.




[1] Cic. Brut. 315; Philostr. soph. 1, 26, 544f.

[2] FRIEDLÄNDER II 128.

[3] Cic. Brut. 316.

[4] Marrou, S. 405.

[5] Cod. Theod. XV 1, 53.

[6] Cod. Theod. XIV 9, 3 = Cod. Iust. XI 19, 1.

[7] Cod. Theod. XIV 9, 1.

[8] Paneg. 4, 5, 6; 7,23.

[9] Aus. Protr. 43-44.

[10] Symm. epist. 1,25.

[11] Chrysost. adv. Opp. 3, 12, 369; 13, 371.

[12] Cod. Iust. II 7, 9.

[13] Humanismus gegen Fachkönnen. Es besteht wohl im spätrömischen Reich ein gewisses Streben nach einer mehr fachlichen Bildung, es wird jedoch erstickt durch den herrschenden herkömmlichen Humanismus.

[14] Lib. or. XXXXVIII 22ff.

[15] Cod. Iust. X 50, 1f.

[16] Lib. or. I 16.

[17] Lib. or. I 37; 101.

[18] Cic. de orat. 1, 87-190.

[19] Cod. Iust. II 7, 11, 2.

[20] Lib. or. II 61; III 6ff.

[21] Lib. or. I 22.

[22] Lib. or. I 37-38.

[23] Lib. or. III 22.

[24] Lib. or. I 22; 25; 37.

[25] Lib. or. I 19.

[26] Marrou, S. 374.

[27] Marrou, S. 406.

[28] Greg. Naz. or. 43, 16.

[29] Lib. or. I 58.

[30] Lib. or. I 19.

[31] Greg. Naz. 43, 19-22.

[32] Zac. V. Sev. S. 13f.; 46f.